Otto ist weg

Otto hatte heute seinen achten Geburtstag und es war der 24. Dezember. Wie gerne hätte er seine Freunde eingeladen! Wenigsten kamen Oma und Opa, wie immer kurz nach dem Frühstück. Zwischen Weihnachtsbaum-Schmücken und Mittagessen durfte er seine Geschenke auspacken und dann war gerade mal Zeit für ein gemeinsames Spiel. Er liebte Brettspiele. Und am liebsten spielte er Schach. Nach dem Mittagessen hatten es seine Großeltern immer ganz eilig, zu Tante Kerstin zu kommen. Dann verkrümelte er sich in sein Zimmer und spielte gegen seinen Teddy Schach. Toller Geburtstag!
Otto konnte es gar nicht erwarten, bis ihn seine Eltern ins Wohnzimmer rufen würden. Hoffentlich würde er auch das neue Ritterspiel bekommen. Seine große Schwester Rebekka brauchte wieder drei Einladungen, bis sie endlich im Wohnzimmer erschien. Als er das große Paket in seinen Händen hielt, ahnte er schon, dass sein Wunsch in Erfüllung gehen würde.
»Aber nur ein Spiel«, tönte aus dem Sessel, in dem es sich seine Schwester bequem gemacht hatte. »Danke Papa, Mutti«, kreischte sie plötzlich, »das ist ja das neue Galaxy S7!«
Dann war seine Mutter an der Reihe: »Nein, Gunnar, ich habe mir schon lange ein Tablet gewünscht!«
Und sein Vater: »Geil, eine Quadrocopter-Drohne für meine Kamera. Danke ihr Lieben! Ein tolles Geschenk!«
»Spielen wir jetzt?«
»Mann Otto, ich muss mit Papa das Smartphone einrichten und dann brauche ich unbedingt ein paar Apps.«
»Und ich muss ein paar Fotos machen und Tante Kerstin die Rezepte von unserem Weihnachtsessen schicken. Eine Wetter- und Wikipedia-App könnte ich auch gebrauchen.«
»Ja, was wären wir ohne Apps! Meine Fußball-App möchte ich auch nicht missen.«
Nach einiger Zeit meldete sich Otto wieder: »Papa, spielen wir jetzt?«
»Gleich. Wollen wir nicht erst die Drohne ausprobieren?«
Otto nahm das Brettspiel und trabte in sein Zimmer. »Wäre ich doch eine App! Dann würden sich alle mit mir beschäftigen!« Seine Eltern und seine Schwester waren so mit ihren Geschenken beschäftigt, dass sie Ottos Abwesenheit nicht bemerkten.
»Papa! Post für dich!«
»Eh, wo kommst du denn her?« Ein Portrait von Otto nahm das ganze Display ein.
Du musst schon schreiben, damit ich dich verstehe.
»Okay. Was machst du in meinem Handy?«
Weiß ich noch nicht, bin ja gerade erst rein gekommen. Ich schau mal kurz zu Mutti.
»Gunnar! Sieh mal, ein Bild von Otto!«
Hallo Mama, hier ist dein Otto!
»Was ist denn das für ein Quatsch! Das kommt doch bestimmt von deinem Bruder, Gunnar!«
Tschau Mama, ich geh mal Rebekka ärgern.
»Eh, was soll denn das, ich rede gerade mit Anna, Mann, verschwinde!«
Hey Rebekka, wie geht’s denn so?
»Papa, was ist denn das für eine bescheuerte App!«
Wenn du dich nicht mit mir schreiben willst, besuche ich eben Tante Kerstin. Rebekka lachte.
»Euer Onkel wünscht uns gerade ein ›Frohes Fest‹. Er will wissen, was Otto so macht. Wo steckt der eigentlich?«, fragte Gunnar.
»Ich schau mal im Kinderzimmer nach«, sagte die Mutter. Gunnar folgte ihr. »Hier ist er nicht.« Sie rannten in den Flur. »Seine Jacke und seine Schuhe sind da!«
»Glaubst du wirklich, er ist weggelaufen?« Gunnar versuchte, sie zu beschwichtigen.
»Wo ist denn Otto!«, fragte jetzt auch Rebekka.
»Los, wir suchen jetzt das ganze Haus ab. Irgendwo muss er sich versteckt haben«, beschloss Ottos Mutter.
Sie waren überzeugt, dass er mit ihnen Verstecken spielen wollte und so ließen sie keinen Schrank aus. Sie suchten nicht nur in den Wohnräumen, sondern auch auf dem Boden und im Keller. Nachdem sie das Haus ohne Erfolg auf den Kopf gestellt hatten, trafen sie sich wieder im Wohnzimmer. »Das ist doch alles nicht wahr. Otto kann doch nicht einfach so verschwinden. Wir müssen das Haus noch mal absuchen oder wir rufen die Polizei an.« Ottos Mutter war völlig aufgelöst.
Gunnar lief nervös im Wohnzimmer hin und her. »Wenn du jetzt nicht sofort raus kommst, versohle ich dir den Hintern!«, schrie er.
»Das macht keinen Spaß mehr, du Zwerg. Nur weil wir nicht mit dir gespielt haben, musst du uns nicht den ganzen Abend versauen. Komm jetzt raus oder ich köpfe alle deine Schachfiguren!«, schimpfte Rebekka.
»Seid ihr denn alle übergeschnappt? Otto ist weg! Ich könnte heulen und ihr seid so gemein.«
»Mutti, du hast Post!«
»Otto!«
»Vielleicht ist er tatsächlich da drin!« Rebekka nahm ihrer Mutter das Tablet aus der Hand und begann, Otto zu schreiben. Sie hatte sich schon gewundert, wieso Otto so gut schreiben konnte. Anscheinend musste er nur sprechen und die App wandelte seine Worte in Schrift um. Ihr Vater rettete inzwischen den Auflauf vor dem Verbrennen und schob die Crème brûlée in den Herd. »Mhm, das duftet! Ich habe eine Idee«, sagte die Mutter. »Schreib Otto, dass wir essen wollen und was es zum Nachtisch gibt. Vielleicht bekommt er ja Appetit!«
»Ja, kleiner Bruder, das ist der Nachtisch, wie wir ihn im letzten Urlaub gegessen haben. Mit einer oberleckeren Karamellkruste!«, tippte Rebekka und sagte: »Ottos Bild ist gerade verschwunden!«
Da ging die Tür auf und Otto spazierte ins Wohnzimmer. »Otto! Da bist du ja!«, seine Mutter nahm ihn in die Arme und drückte ihn so fest, dass er fast keine Luft mehr bekam. Gunnar war der Held des Abends, weil er das Essen gerettet hatte, und alle ließen es sich schmecken. Sie waren gerade beim Nachtisch, als das Telefon klingelte. Es war der Bruder von Gunnar, der sie in der Kirche vermisst hatte. Er schien erleichtert, dass alles in Ordnung war und kündigte seinen Besuch für den nächsten Tag an. Nebenbei erkundigte er sich noch einmal nach Otto.
»Sag mal Otto, war dein Onkel mal hier?«
»Ja, gestern«, antwortete Otto schnell. »Darf ich heute Abend mit in dein Bett, Rebekka?«
»Aber nur wenn du mir erzählst, wie es so als App war, beziehungsweise, wo du dich versteckt hast.« Alle lachten.                                                                                                      (Heike Trefflich, Dezember 2016)


Text und Foto: Heike Trefflich
Text und Foto: Heike Trefflich