Der Nächste, bitte!

294 ist meine Nummer. 313 steht auf der elektronischen Anzeigetafel an der Wand. Die letzten beiden vor mir sind vor 22 Minuten und vor 11 Minuten rein. Ob das wohl der Durchschnitt sein könnte? Also so etwa 10 Minuten pro Kopf und Nase? Schnell überschlage ich, dass ich dann wohl 313 – 294 = 19, 19 x 10 Minuten = 190 Minuten bräuchte, bis ich endlich durch diese Tür ginge. Mhm, gute drei Stunden also. Schöner Mist! Was könnte ich nicht alles erledigen in dieser Zeit. An meinem Auto klemmt der Scheibenwischer, da müsste ich mal nachschauen. Das ist bestimmt in einer Viertelstunde erledigt. Und dann ist da aber noch seit einiger Zeit in dem Sitzbezug des rechten Vordersitzes dieser hässliche Riss. Bei dem ich mich bis heute frage, wie der dort hingekommen ist? Es klafft eine hässliche Wunde in dem Sitz, und die Polsterung lugt daraus hervor. In einer eigenartig beige-braunen Farbe, fast wie die Handtasche der jungen Frau, die mir da schräg gegenüber sitzt.

   Warum die wohl wartet? Bestimmt auch wegen irgend so einer lächerlichen Formalie, die auf diesem lächerlichen Amt zu erledigen ist. Ich schaue sie an. Sie sitzt geduldig und ziemlich entspannt auf einem dieser typischen Wartestühle. Sie blickt auf, als sie bemerkt, dass ich sie betrachte. Als sich unsere Blicke treffen, ist das wie eine Zeitschleuse, die sich von einer Sekunde auf die andere öffnet. Die nächste Nummer fällt, der nächste Wartende setzt sich zur Tür in Bewegung. Sie bleibt noch sitzen. Sie bleibt noch! Gottseidank. Was für ein Lichtblick in dieser Amts- und Warteödnis!

   Kann es sein, dass sie ähnlich denkt? Hat sie nicht eben leicht gelächelt? Oh Gott, lass sie eine Nummer größer als 313 haben! Und wenn die 313 kommt, und sie noch da ist, werde ich den Zettel in meiner Hosentasche verschwinden lassen. Und mit Freude warten. Warten. Warten …

(Rüdiger Leis, Januar 2017)