Foto: Anke Engelmann
Foto: Anke Engelmann

 Hochzeitsmorgen

 

Die Morgendämmerung tauchte das Schlafzimmer in graues Licht. Er erwachte, weil ihn irgendetwas irritierte. Er schob seine Hand unter ihre Bettdecke und als er die Kälte fühlte war er sofort munter. Wie ein Pfeil schoss er aus dem Bett, rief sie, schaute in die Küche, dann ins Bad, ins Kinderzimmer und in die Wohngalerie. Sie war nicht da. Jetzt wusste er, was ihn geweckt hatte: diese Totenstille, als wäre er aus der Welt gefallen und triebe irgendwo allein im All umher, in diesem Universum, wo kein Geräusch durch die Zeit drang. Er suchte sein Handy und fühlte, wie Panik in ihm aufkam. Elf Jahre waren sie zusammen und noch nie hatte er sie an einem Morgen vermisst. Es gab Tage, da wachte er allein auf, doch da wusste er es.

Ihr Telefon war aus. Jetzt musste er raus hier. Als er seine Sachen ergriff, fand er das Kalenderblatt. Er warf einen Blick darauf, erhaschte zwei, drei Wortfetzen, steckte es in die Tasche und verließ die Wohnung. Er rannte die Treppen hinab, immer zwei oder drei Stufen auf einmal. Er zuckte zusammen als er auf die Uhr sah: Viertel vor 5:00 Uhr. Das konnte nicht sein, wo war sie?

Als er aus der Haustür trat, fühlte er sich mit einem Mal besser. Klare, kühle Luft empfing ihn und die Welt war nicht mehr still. Autos fuhren die Schnellstraße entlang und auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er zwei Jugendliche lachend in Richtung Park torkeln. Er atmete tief durch und überlegte, was gestern Abend geschehen war. Sie hatten die Kinder zu ihren Eltern gebracht, waren noch bei Nataniel, um eine gute Flasche abzuholen, einen 2005er could blue, den sie schon lange bei ihm bestellt hatten. Sie dekantierten den guten Tropfen, machten es sich auf der Couch bequem und redeten von der Party, die sie am Vortag mit viel Spaß veranstaltet hatten. Als sie zu Bett gingen, war es gerade 10 Uhr in der Nacht. Sie lagen eng beieinander und schliefen sofort ein. Es war alles in Ordnung gewesen, warum war sie nicht da?

Er rief seinen Bruder an. „Bist aufgeregt, was?“, hörte er ihn lachen. „Lass dir sagen, es wird nicht besser. Versuch, noch ein bisschen zu schlafen, es wird ein langer Tag!“

„Oh Gott“, stöhnte er, “hör mir doch mal zu! Hast du etwas von Nadine gehört?“

Ruhe. „Meinst du das ernst?“ fragte sein Bruder schließlich.

„Ja, todernst. Sie ist nicht zu Hause, sie ist nicht bei mir und ihr Handy ist aus. Ich dachte“, er zögerte, „weil sie manchmal zu dir kommt, wenn sie was auf dem Herzen hat …“

„Nein, sie ist nicht bei uns! Tut mir leid, Bruderherz.“

Er legte auf. Eilig durchsuchte er seine Kontakte, sein Gehirn versuchte, schnellstens die nächste Möglichkeit zu orten. Ihre Freundin, na klar, er wählte ungeniert: „Hallo Franzi, hier ist Lars, kannst du mir sagen, was ich vielleicht vergessen habe? Hat Nadine was vor, ich meine, jetzt in dieser Morgenstunde?“

Franzi sagte nur: „Es ist 4:50 Uhr und ihr solltet noch schlafen. Wir sehen uns später.“ Sie legte auf.

Er schaute bedeppert auf sein Handy. Klaus! Klaus hatte sie bestimmt entführt, er verwechselte so manche Tradition, weil er davon nicht viel hielt.

„Hallo lieber Lars“ stammelte Klaus im Halbschlaf.

Lars polterte sofort los: „Wenn das ein Witz sein sollte, dann lache ich jetzt mal und wenn es ein Scherz sein sollte, so ist er dir gelungen. Aber jetzt bring sie wieder nach Hause!“

„He, he, Lars, mach mal langsam. Ich vermute, du suchst Nadine. Aber ich habe sie nicht, bei mir ist sie nicht und ich würde sie auch nicht behalten … äh, ich meine, ich würde sie nicht entführen.“

„Ehrlich?“ fragte er nach.

„Ehrenwort und ganz ehrlich“, sagte Klaus.

Er legte enttäuscht auf. „Das macht alles keinen Sinn, Nadine ist erwachsen, sie weiß, was sie tut, sie ist intelligent und vernunftbegabt“, murmelte er, aber seine Unruhe wuchs. An der Tankstelle zwei Straßen weiter bestellte er sich einen Kaffee. „Ich brauche einen heißen Schwarzen ganz ohne Süß!“ Die Verkäuferin schmunzelte. „Heute war schon einen junge Dame hier, die hat mit genau dem gleichen Spruch bestellt.“ Sie schaute ihn an. „Ja, wirklich“, beteuerte sie, als sie sein Gesicht sah. „Wann? Wo ist sie hingegangen, wissen Sie das? Sagen Sie es mir! Bitte!“ Sein Herz pochte.

„Oh, das tut mir leid, sie hat nicht viel erzählt. Außer …“, sie überlegte, „ Wir sprachen von der Furt. Erst hatte ich verstanden, sie wolle fort, doch sie lächelte und meinte, sie wolle zur Furt.“ Furt, Furt, das kam ihm irgendwie bekannt vor. Dieses Wort war ihm heute schon begegnet. Er durchkramte seine Taschen und holte das Kalenderblatt heraus:

 

„An einer Furt im Morgengrauen

lasse ein Lied der Hochzeitsfee erklingen,

so wird sie dir Gewissheit und Vertrauen

für die Bindung deines Lebens bringen!“

 

Es dämmerte ihm: Sie stellte ihn gern vor Rätsel und freute sich, wenn er sie erriet. Und so schön, wie der heutige Tag war, so ernst war er auch. So ernst nahm sie ihn. Auch das liebte er an ihr. Sie war lustig und witzig und für allen Spaß zu haben und dabei ganz und gar nicht oberflächlich.

Er wusste jetzt, wo er sie finden würde. Er ließ seinen Kaffee stehen und machte sich auf den Weg. Wie ein Marathonläufer lief er leicht und locker und hatte sein Ziel schnell erreicht. Als er die kleine Gasse zur Furt hinunter kam, sah er sie. Sie saß am Wasser und sang. Er hatte es nicht mehr eilig. Einen Moment betrachtete er sie. Dann setzte er sich zu ihr und stimmte in ihr Lied ein. Es war ihr Lieblingslied: „Willst du“ von Schandmaul.

 

(Carmen Ufert)